Die freche Rose

von Philipp Pulger


Das geht jetzt schon eine ganze Weile so. Ich sitze hier auf meiner Bank in meinem Park. Um ehrlich zu sein, weder die Bank noch der Park gehören mir. Doch ich bin hier fast jeden Tag. So oft, dass ich eigentlich Ben fragen könnte, ob er ein Gästezimmer für mich einrichtet. Ben ist obdachlos, aber hier im Park wohnt er ohne Miete und mit netten Nachbarn. Ich habe ein Dach über dem Kopf. Aber was würde ich für Bens Freiheit geben. Und da! Schon wieder. Das geht jetzt schon eine ganze Weile so. Mit Ben verstehe ich mich gut. Ab und zu gehen wir zusammen essen. Er, weil er schon Hunger hat, und ich… Ich habe eigentlich auch Hunger. Nach einem Gespräch. Nicht, dass ich niemanden hätte, mit dem ich reden könnte. Da gibt es eine Menge Leute. Aber mit Ben, mit Ben kann man anders reden. Ben kann eines besonders gut, so gut, dass ich keinen anderen kenne, der es besser könnte. Ben kann zuhören. Wenn man mit ihm spricht, merkt man das. Die Worte kommen leichter, und auch die unangenehmen Dinge kann man rauslassen.

Da war es schon wieder. Das geht jetzt schon eine ganze Weile so. Seit gut einer Woche. Vor einer Woche habe ich sie getroffen. Sie… sie ist so anders. Ich kenne viele Frauen. Doch, kenne ich sie wirklich? Bei ihr hatte ich gleich das Gefühl, sie schon lange zu kennen. Und dabei kenne ich noch immer nicht ihren Namen. Aber was ist ein Name, wenn man alles andere schon kennt? Als ich sie traf, hatte ich ein ähnliches Gefühl wie bei meiner ersten Begegnung mit Ben. Sie und Ben sind natürlich grundverschieden, und das nicht nur vom Geschlecht. Aber wenn man besondere Menschen zum ersten Mal trifft, und ich meine wirklich besondere Menschen, dann weiß man gleich, dass sie einem etwas bedeuten werden. Das geht zumindest mir so. Das war mit Ben so. Das war mit ihr so.

Schon wieder. Treib es nicht zu weit! Letzte Woche, als ich sie das erste Mal traf, da war mir noch nicht klar, was mit mir passieren würde. Wie ich schon sagte, ich spürte, dass ich einen besonderen Menschen getroffen hatte. Aber das spürte ich auch, als ich Ben zum ersten Mal traf. Hätte ich doch nur genauer in mich hineingehorcht. Dann wäre mir der Unterschied aufgefallen. Wäre er? Sagt man nicht, Liebe macht blind? Wenn das Leben doch einfach wäre. Doch was wünsch ich mir da? Sind es nicht die kleinen Schwierigkeiten, die das Leben interessant machen? Und sind die großen Schwierigkeiten nicht gerade die richtige Würze? Ich denke schon.

Und da! Seit einer Woche geht das so. Jedes Mal, wenn ich auf meiner Bank in meinem Park sitze. Bald ist es genug. Bilde ich es mir nur ein, oder war da schon dieses Stechen, nur ganz leicht, das im Laufe der Woche immer größer wurde? Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich glaube fast, dass es die ganze Zeit da war. Vom ersten Moment an. Seit ich sie traf. Natürlich trafen wir uns zufällig. Fast schon klischeehaft sind wir übereinander gestolpert. Ich stammelte ein leises, unsicheres "Entschuldigung". Sie lächelte mich an. Vielleicht antwortete sie auch nur auf mein Verlegenheitslächeln. Ach ja. Beim Zusammenstoß hatte sich ihr gesamtes Mittagessen auf der Straße verteilt. Nun, was mal ihr Mittagessen werden sollte.

Langsam reicht es. Und das mir. Seit einer Woche! Wenn das keine Frechheit ist. Wenn du wüsstest! Ich musste sie zum Essen einladen. Musste ist vielleicht das falsche Wort. Aber ihrem Wunsch nach Ersatz für das Mittagessen musste ich einfach nachkommen. Und dann waren wir essen. Jetzt sehen wir uns fast jeden Tag. Wir haben den gleichen Weg. Wenn sie kommt, gehe ich. In der Mitte treffen wir uns.

Sie hat es schon wieder gesagt. Und wie! Seit einer Woche, immer wenn ich auf der Bank hier sitze, und ich weiß nicht wie oft. Und schon wieder: "Feigling!" Sie hört gar nicht mehr auf: "Feigling! Feigling! Feigling!" Jeden, der mir vor einer Woche erzählt hätte, dass Blumen reden können, hätte ich für verrückt erklärt. Vor einer Woche. Und jetzt? Jetzt beschimpft mich eine rote Rose. "Feigling! Feigling!" Jetzt ist es genug! Das ist zuviel. Ich stehe auf, ich packe sie, ich pflücke sie und Ihr wisst, was man mit roten Rosen macht…

© Philipp Pulger (9/97)

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